Ich war ein lesehungriges Kind. So unersättlich nach dem geschriebenen Wort, dass es meine Mutter grauste und sie mich einem Arzt vorstellte. Dieses Stubenhocken und das einzelgängerische Amusement, ohne Freunde, aber mit einem Buch in der Hand, das war den Eltern nicht geheuer.
Mich faszinierten die Welten, die mich umfingen, sobald ich zu schmökern begann. Ich las Bücher ohne Unterlass, Bücher, für die ich zu jung war, vor allem aus Omas kleiner Bibliothek, die vornehmlich aus Bänden bestand, die sie als Leserin der Rheinischen Post günstig beim Verlag erstand. Ich las, gerade der Grundschule entwachsen, Thriller wie "Eisstation Zebra" oder "Nacht ohne Ende" von Alistair MacLean, ich verschlang fiktiv-historische Schinken wie "Desirée" von Annemarie Selinko, ich las als Kommunionkind die Novellen von Theodor Storm, ich las und las und las einfach alles, was mir in die Finger kam. Wenn Oma es sehr gut mit mir meinte, durfte ich Eierlikör dazu trinken.
Ich sehe mich in der Großeltern Wohnzimmer sitzen, im hellgrauen Sessel mit diesem kurzgeschorenen, pieksigen Bezug. Oma und Opa hatten ein Bekleidungsgeschäft, ich war in der Wohnung über dem Laden allein und las und las und las. Einmal hatte ich die Beine über die Armlehne gehängt, vertieft in "Die Feuerzangenbowle" von Heinrich Spoerl. Was habe ich gelacht und als Opa ins Wohnzimmer kam, drehte er sich zu Oma um und rief: "Sophie, isch kann nitt verstonn, wie ene Mensch övver e Book so laache kann."
Kinderbücher verschmähte ich ebenfalls nicht. Ich ließ mir Bücher schenken, zum Geburtstag, zu Weihnachten, zu jedem Anlass. Ich ging in die Bücherei, um mir Lesestoff auszuleihen. Ich hatte sie alle. Pippi Langstrumpf, Hanni und Nanni, "Der Trotzkopf – Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen" – heiß und innig geliebt.
Ich war auch ein dickes Kind. Ein sehr dickes Kind. Das lag nicht an den Drüsen, sondern am Essen. Vermutlich auch an mangelnder Bewegung, ich musste ja lesen. Schon früh fand ich Bücher besonders toll, in denen irgendwelche Mahlzeiten oder Lebensmittel vorkamen. Ilse Trotzkopf zum Beispiel kommt renitent wie immer in derben Lederstiefeln zum Frühstück und isst eine extrem dicke Scheibe Schwarzbrot, belegt mit fingerdicker Butter. Abwechselnd beisst sie herzhaft vom Brot in der einen und von einer dicken Scheibe Wurst in der anderen Hand ab. Faszinierend.
Die "Fünf Freunde" von Enid Blyton ("Ennit Blühtonn" ausgesprochen) bekamen häufig Kekse zugesteckt, was ich absolut beneidenswert fand. Kein Weihnachten und trotzdem Plätzchen, das gefiel mir. Der lustige Richard war mein Liebling, denn er war, wie ich, ein leidenschaftlicher Esser. Gleich danach kam Georginas zerstreuter Vater Quentin Kirrin, an den ich seltsamerweise heute noch häufig denken muss.
Wen wundert es da noch, dass ich "Es muss nicht immer Kaviar sein" von J. M. Simmel gleich mehrfach las?
Als Shermin, der ich herzlich für diese tolle Idee danke, das Event ins Leben rief, wußte ich nicht nur sofort, dass ich mitmachen würde, sondern auch, über was ich schreiben wollte. Über Räuber Hotzenplotz.
Im ersten Band des Buches von Otfried Preußler, "Der Räuber Hotzenplotz", gehen Kasper und Seppel auf die Suche nach Großmutters Kaffeemühle, die der Räuber Hotzenplotz gestohlen hat. Es kommt zu spannenden Begegnungen mit Zauberer Petrosilius Zwackelmann, Wachtmeister Alois Dimpfelmoser und mit der Fee Amaryllis. Und es wird gegessen. Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Salzgurken. Salami. Eine knusprige Gans. Und Kartoffeln. Kartoffeln in allen möglichen Variationen, denn sie sind die Lieblingsspeise des Zauberers Zwackelmann, was ich gut verstehen kann. Er vertilgt in kürzester Zeit respektable sieben Schüsseln Kartoffelbrei, sechseinhalb Dutzend Kartoffelklöße mit Zwiebeltunke sowie Bratkartoffeln aus sechs Eimern Kartoffeln. Halt! Zu den Bratkartoffeln kommt er nicht mehr, er geht vorher im Unkenteich unter. Müsst ihr selber mal nachlesen, sehr aufregend. Der absolute Höhepunkt sind jedoch das Brot und die beiden Würste, die sich Kasper unter den Arm klemmt, als er aus dem Zauberschloss ausbricht, um bei Vollmond das Feenkraut zu suchen. Zwei ganze Würste! Sensationell!
Das ganze Cholesterin scheint sich jedoch bei Kasper auf die geistige Beweglichkeit niedergeschlagen zu haben. Am Ende erbittet er sich von dem Ring, der ihm drei Wünsche beschert: 1. Eine neue Zipfelmütze. 2. Großmutters gestohlene Kaffeemühle. 3. Dass der zu einem Gimpel verwandelte Räuber wieder seine ursprüngliche Gestalt annimmt. Ähh, jaaa…Trotzdem war ich gespannt, wie es wohl weiter gehen würde.

Der Inhalt des Buches ist schnell erzählt:
14 Tage nach der Wiederbeschaffung von Großmutters Kaffeemühle und des Einstreichens einer Belohnung von 555,55 Mark müssen Kasper und Seppel schon wieder ran. Denn Räuber Hotzenplotz, der seitdem im Spritzenhaus gefangen war, entkommt durch das Vortäuschen einer Blinddarmverrenkung, entführt Großmutter und verlangt als Lösegeld 555,55 Mark – so ein Schuft.
Auch wenn die Rückschau auf den Fortsetzungsband "Neues vom
Räuber Hotzenplotz" erkennen lässt, dass viel weniger Speisen zubereitet
und verspeist werden als im Vorgänger- es gibt unspektakuläre
Butterbrote, Zuckerplätzchen und Schwammerlsuppe (aus Rotkappen, mit
Speck und Zwiebeln und einer guten Einbrenne) – so ist ein Gericht von
einer derart hohen und überwältigenden Qualität, von der Komposition her jedoch so verstörend, dass es sich für immer
in mein kulinarisches Gedächtnis gebrannt hat.

Es ist Donnerstag und donnerstags, Punkt 12.00 Uhr, gibt es bei Großmutter zu Mittag Bratwurst mit Sauerkraut, Kasper und Seppels Lieblingsspeise.
Was mir völlig unverständlich war und ist und was mich seit ungefähr 45 Jahren umtreibt, ist die Frage: Wieso gibt es dazu kein Kartoffelpüree?
Aber das Unfassbarste waren und sind die zubreiteten Mengen. Großmutter ist eine ältere Dame. Seppel und Kasperl sind Kinder oder junge Jugendliche. Und in der Pfanne brutzeln NEUN Würstchen. Für DREI Menschen, von denen zwei noch nicht erwachsen sind und eine schon so alt ist, dass sie – so dachte ich damals – bestimmt keinen großen Appetit mehr haben kann.
Ich kam da nicht drüber weg. DREI Würste für eine Person und kein Püree. Unvorstellbar. Verschärfend kam hinzu, dass der Räuber Hotzenplotz in Großmutters Küche eindringt und das Sauerkraut sowie die komplette Würstchenriege ALLEIN verputzt. Zapperlot! Wie oft habe ich mich gefragt, ob der Räuber auch den kompletten Kartoffelbrei gegessen hätte, wenn welcher da gewesen wäre. Schwammerlsuppe futtert er ja auch hektoliterweise.
Immer, wenn am heimischen Esstisch die Kotelettes geteilt wurden, hätte ich zu gern gewußt, wieviele Kotelettes oder Schnitzel oder Schweinshaxen Kasper und Seppel wohl auf einmal essen durften und ich erträumte mir ein Schlaraffenland, mit drei Würsten, Sauerkraut und Kartoffelbrei auf dem Teller.
Es war also abgemacht, ich wollte unbedingt über dieses Buch und das Gericht schreiben. Beim Durchforsten des heimischen Bücherregals fand sich das Buch "Der Räuber Hotzenplotz", aber "Neues vom Räuber Hotzenplotz" war nicht vorhanden.
Da fiel sie mir wieder ein: Monika Beckers. Des Schaustellers Töchterlein, Gefährtin ausschließlich im 1. Realschuljahr. Danach zog sie weiter. Mit Vaters Losbude, dem Softeiswagen und meinen beiden Büchern im Schlepptau. Entschwunden auf Nimmerwiedersehen.
Band 1 habe ich mir irgendwann wieder zugelegt. Um an die für dieses Event benötigte Fortsetzung zu gelangen, musste ich Anfang der Woche die örtliche Bibliothek aufsuchen, die das Exemplar glücklicherweise vorrätig hatte. Nach der Ausleihe ging es zum Einkaufen. Bratwürste (aber nur vier Stück), Sauerkraut, mehr nicht, der Rest war im Vorrat.
Dann wurde gekocht.

Zwiebeln mit durchwachsenem Speck in Gänseschmalz langsam anbraten.
Sauerkraut im Dampfgarer 7 Minuten vorgaren – wir mögen es gerne weich. Kraut mit ein paar Wacholderbeeren und einem gewürfelten Apfel zu den Zwiebeln geben, mit Salz und Pfeffer würzen. Dass Großmutter mit Beerenauslese ablöschte, kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich bin ja noch keine Großmutter, deshalb durfte ich das.

Dann wird geschmurgelt, bis der Rest der Mahlzeit parat ist. Wer mehr Zeit hat als ich, lässt das mit dem Dampfgarer, fängt ein Stündchen früher an und gart das Kraut gleich komplett im Topf.
Bratwurst in Öl langsam braten.

Kartoffeln schälen, in Salzwasser kochen. Wenn sie gar sind, mit einem guten Stich Butter und Vollmilch stampfen. Muskat zufügen, für eine geschmeidige Konsistenz saure Sahne unterziehen. Abschmecken.
Fertig! Aber ohne Kartoffelpüree? Unvorstellbar.
Am Ende des Buches, nach Irrungen und Wirrungen, nach dem Einschalten der staatlich geprüften Wahrsagerin Frau Schlotterbeck, die nicht mehr hext, seit sie bei dem missglückten Versuch, ihren Langhaardackel Wasti in einen Bernhardiner umzuhexen, zur stolzen Besitzerin eines Krokodils mit Hundemanieren wurde, am Ende also wird doch noch alles gut. Hotzenplotz wird geschnappt, Großmutter kocht nochmals Sauerkraut und Bratwurst, obwohl Sonntag ist und alle sind glücklich. Wir auch. War gut.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann futtern sie noch heute.
Übrigens prangere ich nicht nur Monika Beckers, sondern auch Agnes W. aus B. an. Sie hat noch mein wunderbares Buch "Seidenraupe Dschungelblüte" über das Leben von Maria Sibylla Merian in ihrem Besitz.